Achja, der leidige Teufelskreis der Werbung wird wohl niemals enden: Beinahe jeder hat einen Adblocker auf dem Rechner. Briefkästen sind seit Jahren mit bunten Aufklebern gegen Prospekte und Anzeigenblätter geschmückt (gibt es sogar in der Luxus-Variante in Edelstahl-gebürstet). Ins Kino geht man 20 Minuten später, um den lästigen Werbeblock zu umgehen und die Fernsehwerbung ist durchaus praktisch für eine kurze Pinkelpause.
Aber irgendwie müssen uns Unternehmen doch erreichen, um sich selbst und ihre Produkte an den Mann und die Frau zu bringen. Die Münchner Agentur Virtual Identity widmet sich deshalb seit einiger Zeit dem Thema UBX – Useful Brand Experience – und hat bereits zwei Konferenzen mit internationalen Cases und Speakern veranstaltet, von denen Christian hier und hier berichtete. Beispielsweise Toyota und Samsung haben bereits UBX-Kampagnen umgesetzt:
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Nun war ich am vergangenen Donnerstag zum UBX Jam eingeladen, einem Workshop, bei dem rund 20 Vertreter aus der Marketing- und Kommunikationsbranche zusammenkommen und sich einen Nachmittag lang mit der Frage – und auch Antwort – beschäftigen „Wie mache ich meine beziehungsweise unsere Marke nützlich“.
Nach einer kurzen Erklärung, was UBX überhaupt ist, haben wir uns gleich in den praktischen Teil gestürzt: Innerhalb von wenigen Stunden haben wir in kleinen Gruppen für vier der anwesenden Marken(vertreter) völlig neue Konzepte entwickelt – und das war viel einfacher als gedacht.

So funktioniert‘s:

Als erstes geht es darum, den Markenkern zu definieren: Wofür steht meine Marke? Welche Werte vertritt sie? Was wollen wir nach draußen kommunizieren?

Der Weg zur nützlichen Kommunikation.
Der Weg zur nützlichen Kommunikation.

Der zweite Schritt fordert dann etwas Kreativität. Nun gilt es, den definierten Markenkern ins genaue Gegenteil zu verkehren. Als Beispiel wurde hier L’Oréal genannt, deren Ziel es ist, dass man sich schön fühlt. Genenteil davon wäre dann das Ziel, das die Konsumenten sich hässlich fühlen. Man kann sich diese Umkehrung wie ein Schatten des Markenkerns vorstellen. Hat man das Gegenteil gefunden, widmet man sich der Zielgruppe und sucht innerhalb des Gegenteils nach konkreten Alltagsproblemen. Der Clou des Vorgehens ist, dass Lösungen, die später entstehen, zur Marke passen.
In der Gruppenphase
In der Gruppenphase

Hat man dieses Gegenteil gefunden, widmet man sich den Alltagsproblemen seiner Zielgruppe. Dazu gibt es mehrere Methoden, wie zum Beispiel das „Alltagsrad“, bei dem man seinen Kunden zu einem typischen Tagesablauf befragt, die „Step-by-Step“-Methode, bei der man sich einen typischen Arbeitsablauf erklären lässt oder das „Shadowing“, bei dem man einen Kunden eine Zeit lang als stiller Beobachter begleitet und so mögliche Alltagsprobleme identifizieren kann. Da wir nun keine Vertreter der jeweiligen Kunden vor Ort hatten, mussten wir uns selbst in deren Lage versetzen und haben uns den möglichen Tagesablauf vorgestellt.
Methoden
Die drei Methoden der Alltagsbeobachtung

Bereits beim Vorstellen eines typischen Arbeitstages tauchten so viele Problemfelder und Komplikationen auf, dass es gar nicht so leicht fiel, sich für eines zu entscheiden. Als das Problem dann aber genau definiert war, waren wir aber auch schon bald bei der Lösung und präsentierten diese vor allen Teilnehmern. Ohne uns an dieser Stelle zu sehr auf die Schulter klopfen zu wollen, aber auf die Ergebnisse waren wir schon ein bisschen stolz: eine Werte-Kompass-App, die die Kunden einer Schweizer Uhrenmarke zu nachhaltigem Konsum anhalten sollte, ein mehrsprachiger Chatbot, der LKW-Fahrern im Ausland bei Pannen und Unfällen schnell an die nächste Werkstatt vermittelt, ein Bewertungssystem für ein Wissensvideoportal für Ärzte sowie eine Zahlmethode ganz ohne Bargeld, Karten oder Chips für eine klassische Bank.
Alles in allem ein sehr spannender und lehrreicher Nachmittag! Nun geht es daran, zu überlegen, wie wir diese Methoden in der Arbeit mit unseren Kunden einsetzen können.

Mal angenommen, Sie wären Chef eines traditionsreichen Fahrradverleihs in einer europäischen Metropole und all ihre Räder wären in einer Farbe lackiert, sagen wir mal gelb, und überall in der Stadt gut sichtbar. Dummerweise kopiert mit der Zeit die Konkurrenz die Idee, so dass neben gelben auch grüne, rote oder blaue Räder durch die City fahren. Was nun, um sich von der Konkurrenz zu differenzieren?
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Das Amsterdamer Kreativteam Wilmar Versprille und Matthijs Groos fand für den lokalen Fahrradverleih yellowbike eine witzige Lösung: Yellowbackie, den gelben Fahrradträger, der Touristen der Stadt zum Mitfahren einlädt. Jeder Amsterdamer, der Fahrrad-Taxi für Touris spielen möchte, um ihnen seine Stadt persönlich zu zeigen, bekommt umsonst einen gelb lackierten Radlträger, auf dem er Beifahrer mitnehmen kann. Die Aktion erzielte ein Riesen-Medienecho. Ich finde: Clevere PR und eine sympathische Idee für eine Fahrrad-Metropole wie Amsterdam, um international Gastfreundschaft auszustrahlen. In Deutschland wäre die Idee, so meine Vermutung, nach einer Minute Diskussion mit der Rechtsabteilung gescheitert und eine Diskussion über die Fahrerhaftung und das Maximalgewicht des Beifahrers entstanden.
Nach ihrer gelungenen Premiere im vergangenen Jahr schaffte es die ubx, die von der Münchner Agentur Virtual Identity organisierte Konferenz für useful brand experience, auch in diesem Jahr neben Yellowbackie mit vielen plastischen Beispielen zu zeigen, dass Marken Kommunikation auch anders interpretieren können. Aber sie zeigte auch, dass der Anspruch, Marken sollen die Welt dauerhaft zum Besseren verändern, für die allerwenigsten Brands einlösbar sein wird.
Besonders deutlich wurde das einem Beispiel: Für die Einführung des neuen 7ers, des Flaggschiffs von BMW, wählte die österreichische Agentur Demner Merlicek und Bergmann ein Feature des neuen Wagens für die Kommunikation aus: Night Vision, ein System, das Fahrer vor unbeleuchteten Fußgängern und größeren Tieren warnt. Dabei nimmt eine Infrarotkamera den Bereich vor dem Fahrzeug auf, erkennt Menschen und größere Tiere und markiert diese im Wärmebild dementsprechend in einem helleren (Personen) und einem dunkleren (größere Tiere) Gelb. An Straßenpassagen in Österreich, die besonders von Unfällen durch Wildwechsel betroffen waren, wurden digitale Plakate montiert, die für Fahrer aller Marken das Bild zeigten, dass der 7er Fahrer mit Night Vision sehen würde – also auch die Tiere im angrenzenden Wald. Die Folge: Nach Angaben von BMW ereigneten sich im Aktionszeitraum auf den Strecken mit Billboards keine Unfälle.
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Eigentlich ein schöner Erfolg. Dumm nur, dass BMW die Billboards am Ende der Cannes-prämierten Kampagne (ein silberner Löwe) wieder abmontieren ließ. „Das Mediabudget war ausgeschöpft“, begründete BMW-Marketer Michael Bachmaier auf der ubx. Finanziell durchaus verständlich, aber vielleicht hätten sich ja auch Co-Sponsoren gefunden, die diese Maßnahme zur Verkehrssicherheit dauerhaft mitgetragen hätten. Bei etlichen ubx-Besuchern hinterließ das Entfernen der digitalen Plakate einen schalen Nachgeschmack. Wie glaubwürdig sind Marken, die sich nur innerhalb des eines Kampagnen-Zeitraums nützlich machen? Konterkariert das nicht den eigentlichen Zweck der Aktion? Oder ist es im Gegenteil aus Markensicht sogar gewollt, dass nur 7er-bzw. BMW-Fahrer das Feature einsetzen können? Und ein bißchen arg idealistisch, von Marken und Wirtschaftsunternehmen zu verlangen, dass sie sich altruistisch engagieren?
Useful Brand Experience, das zeigt die ubx16 deutlich, steht immer unter dem Finanzierungsvorbehalt. Nur Marken, die dauerhaft Geld verdienen, können sich nachhaltig nützlich machen. Gleichzeitig steigt die Erwartungshaltung von immer mehr Menschen in einer weitgehend satten Konsumgesellschaft an Marken: Sie sollen etwas bieten, was über den reinen Produktnutzen hinausgeht. Es liegt an den Produkt- und Markenverantwortlichen sowie den Kreativen, diesen Widerspruch dauerhaft auf- und einzulösen. Der Weg dahin ist eigentlich ganz einfach: „Sei interessiert, sei interessant!“, forderte ubx-Keynote-Speaker Gunter Dueck von den Teilnehmern. Die ubx selbst hat diesen Anspruch als Konferenz für nützliche Werbung jedenfalls auch in ihrem zweiten Jahr eingelöst.

Statt kreidebleich wurden wir Rot vor Freude, als wir das handgemalte Logo von cocodibu in passender Umgebung entdeckten. Cooles Branding der Gastgeber.
Statt kreidebleich wurden wir Rot vor Freude, als wir das handgemalte Logo von cocodibu in passender Umgebung entdeckten. Cooles Branding der Gastgeber.

Trinken für den Regenwald? Das kennen wir seit 2002, als Krombacher für jeden Kasten Bier einen Quadratmeter Regenwald pflanzen ließ. Was gibt es Schöneres als Alkoholkonsum, der durch Werbung nicht nur gesellschaftlich akzeptiert wird, sondern auch noch Gutes tut: Dem Umsatz der Biermarke und der Wiederaufforstung in der zentralafrikanischen Republik.
Den Deal „Kauf mich und ich spende einen (eher sehr) kleinen Teil meines Umsatzes“ kennt der Konsument mittlerweile aus einer Vielzahl von mehr oder weniger gelungenen Aktionen von Marken – gerade jetzt in der Vorweihnachtszeit. Diese konsumistische Form des Ablaßhandels stößt aber an ihre Grenzen, je mehr dieser Aktionen den Menschen begegnen.
Wie wäre es stattdessen mit einem Werbeplakat, dass mitten in der peruanischen Hauptstadt Lima, in der es extrem selten regnet, Trinkwasser aus der in der Regel sehr feuchten Luft filtert. Und das als clevere Werbung für die Attraktivität und Innovationskraft des Ingenieursberufs. Die technische Universität UTEC in Peru entwickelte mit ihrer Agentur 2013 in einer preisgekrönten Aktion ein solches Plakat, das seitdem pro Tag knapp 100 Liter kostenloses Trinkwasser für die Bewohner Limas produziert.
Wasser umsonst statt Bierkonsum für den Regenwald? Die Entwicklung von Krombacher 2002 zu UTECH 2013 zeigt, dass sich der Anspruch an Marken verändert. Statt „Don’t be evil“ (der Slogan von Google) erwartet der Konsument immer häufiger „Be Useful“.
Viele gute Beispiele, wie Marken sich nützlich machen können, zeigte vergangene die UBX-Konferenz 2015, die von der Agentur virtual identity in München veranstaltet wurde (#ubx15). Samsung präsentierte mit Power Sleep ein Beispiel, wie sich die Prozessoren von Smartphones über Nacht für wissenschaftliche Zwecke nutzen lassen.

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Kimberly-Clark zeigte seinen Cannes-prämierten Case „Meeting Murillo“ der Windelmarke Huggies, bei dem einer blinden schwangeren Frau nach einer Ultraschall-Untersuchung ihr Ungeborenes als 3D–Druck gegeben wurde. So konnte sie fühlen, wie das Gesicht ihres Babies aussieht.
https://youtu.be/KD0AC43fc_4
Noch eindrucksvoller als der emotional anrührende Film war aber die Entstehungsgeschichte dahinter: Denn keiner bei Kimberly-Clark fand die Idee der Brasilianer gut. Nicht das Südamerika-Team, nicht das Global Headquarter. Warum sollen wir einen Film mit einer blinden Schwangeren machen, die nur einen winzigen Bruchteil unserer Zielgruppe darstellt? Warum sind keine Windeln im Bild und warum werden keine Produkteigenschaften der Huggies genannt? Einwände, mit denen wohl jeder Marketingleiter in seinem Unternehmen konfrontiert werden würde. Deshalb war es die wohl stärkste Leistung der verantwortlichen Marketingleiterin Priya Patel und ihres Teams, dass sie die Aktion trotz aller Einwände durchgezogen haben. Denn nachdem Huggies auch durch „Meeting Murillo“ die Windelmarke Nummer 1 in Brasilien wurde, waren natürlich alle Väter des Erfolgs – nicht nur die Mütter der Aktion.
Vom Moderator auf der UBX gefragt, ob sie sich denn vorstellen könne, wieder „normale“ Werbung zu machen, so mit Produkteigenschaften, Streichpreis & Co., verneinte Patel. Wer einmal etwas gesellschaftlich bewegt hat, möchte nicht mehr wiederverschließbare Bündchen und Saugeigenschaften kommunizieren. Die nächste ungewöhnliche Aktion, so Patel, sei bereits für Februar 2016 geplant.

Für Ralf Heller, den CEO von virtual identity, sollen Marken künftig "zuhören, unterstützen und innovieren".
Für Ralf Heller, den CEO von virtual identity, sollen Marken künftig „zuhören, unterstützen und innovieren“.

Bei allen gezeigten Beispielen spielte die Aufmerkasamkeit, die durch PR erzielt wurde – und nicht durch PAID Media erkauft werden musste -, übrigens eine zentrale Rolle.
Eine Useful Brand Experience im eigenen Unternehmen durchzusetzen, ist wohl die größte Herausforderung für Marketer. Dass Marken Mehrwert liefern sollen, ist ja nicht neu. Der Druck, dass sie es tun müssen, nimmt allerdings zu, sagte Ralf Heller, der Initiator der UBX und CEO von virtual identity. Denn mit über 3.000 Botschaften am Tag und einem konstant hohen Werbedruck nehmen viele Konsumenten Marken heute „als Stalker wahr, die sie nur noch nerven“, so Heller. Und reagierten darauf, indem sie sich aktiv oder passiv der Werbung entzögen.
Werbeverweigerung ist jedoch – anders als derzeit häufig der Eindruck erweckt wird – kein Phänomen, das allein durch blinkende Werbebanner im Internet ausgelöst. Als Vorläufer der Adblocker haben wir Prospekte aus Zeitungen und Zeitschriften geschüttelt, die wir ungelesen wegschmissen haben. Wir haben „Keine Werbung“-Aufkleber auf unseren Briefkästen angebracht und im Radio beim Werbeblock zur nächsten Station weitergedreht. Heute ermöglicht uns Technologie im großen Stile Werbung auszublenden: Festplattenrekorder erlauben das Skippen des TV-Werbeblocks, bei Digitalradios skippt man mit einem Tastendruck die Station, AdBlocker filtern Werbung aus Webseiten und sowohl die Zahl der werbefreien medialen Pay-Angebote als auch der Zahl ihrer Nutzer wächst. Egal ob bei Netflix, Spotfiy oder ähnlichen Angeboten.
Tut sich die ältere Generation mit dieser technologie-gestützten Form Werbung auszublenden, tendenziell eher noch schwerer, sind die jüngeren längst professionelle AdSkipper. Um überhaupt noch eine Rolle in ihrem Leben und auf ihrem Smartphone zu spielen, müssen Marken künftig eine „useful brand experience“ liefern. Was genau das sein kann, darüber müssen Marken jetzt verstärkt nachdenken, so das Fazit der UBX 2015, die man als inspirierende Veranstaltung (was Inhalt und Form gleichermaßen betrifft) nur empfehlen kann.
Witzige Idee: Für jeden Tweet mit dem Hashtag #ubx2015 schickten die Veranstalter einen Twitterball auf die Reise.
Witzige Idee: Für jeden Tweet mit dem Hashtag #ubx2015 schickten die Veranstalter einen Twitterball auf die Reise.

Dieser Rückblick wurde für LEAD Digital verfasst und dort publiziert.