Ich kenne Jochen Kalka seit 1992. Was uns verbindet? Der erste gemeinsame Arbeitstag (im wunderschön gelegenen Neuperlach – beim Fachmagazin w&v, dass damals noch wöchentlich und in deutlich größerem Umfang erschien), eine gemeinsame Kollegin (Jessica – beste Grüße auf diesem Weg), der deutsche Mediapreis und der Hang zu starken Headlines. Deshalb hat es mich auch nicht gewundert, dass Jochen, im Hauptberuf seit über zwei Jahrzehnten Chefredakteur der w&v, sein neuestes Werk als Buchautor mit „Die StartUp-Lüge“ betitelt hat (Gewundert hat mich eher, dass Chefredakteure nebenher noch Bücher schreiben können). „Wie die Existenzgründungseuphorie missbraucht wird – und wer davon profitiert“, verspricht das Cover. Ein spannendes Thema, mit maximalem Trommelwirbel eingeleitet und Anlass genug, mit dem Autor zu sprechen:
Lieber Jochen, wenn der Chefredakteur eines Marketing-Magazins ein kritisches Buch mit dem Titel „Die StartUp-Lüge“ schreibt, klingt das, als würden die Werber schwer daran knabbern, dass Startups derzeit irgendwie cooler sind. Oder?
Jochen Kalka: Lieber Christian, das Buch habe ich als Privatmensch geschrieben, natürlich mit scharfem Auge, Salz und Pfeffer. Und, merkwürdig, aber mir sind die Parallelen zwischen Werbern der Mad-Men-Ära und den heutigen Startups beim Schreiben nicht aufgefallen. Irgendwie hast du recht, Werber sind ganz vorne mit dabei, wenn es darum geht, sich so cool zu geben, als wären sie selbst ein Startup. Das nagt sicher an des Werbers Seele, so er eine hat.
Wir hoffen mal, dass er sie noch nicht verkauft hat. Aber erklär mir doch bitte zum Start, wo genau Startups so lügen, dass es sich lohnt, darüber ein Buch zu verfassen.
Jochen Kalka: Hast du gehört, wie tief ich gerade Luft geholt habe? Also, ganz kurz in Schlagzeilen: Wenn Gründer beim Businessplan mit goldgeilen Augen vor allem über ihre Exit-Strategie philosophieren, lügen sie sich in die eigene Tasche und in die ihrer Investoren. Wenn Gründer nicht einmal Zielgruppen definieren, keine Märkte analysieren, keinen USP fabulieren, dann beginnt das große Wettlügen. Dass Mitarbeiter ausgebeutet werden, Frauen noch mieser behandelt werden als in biederen alten Firmen, macht die Sache nicht besser. Ja, und dann kommen die altehrwürdigen Konzerne daher, deren Chefs plötzlich ein hierarchiefreies Du zelebrieren, sich die Krawatten vom Leibe reißen und Sneakers anziehen, dann in ihrem frisch eingerichteten Kreativzimmer ein Selfie posten und sagen: Startup, c´est moi! Lüge, Lüge, Lüge!
Ok, das waren jetzt eine ganze Menge Headlines, fast ein bißchen Lügenpresse 😉 Lass uns mal mit dem ersten Vorwurf anfangen: Ich dachte immer, Investoren und Business Angels sind so abgezockt und versiert im Gründergrillen, dass da kein Möchtegern-Exit-Experte Kohle bekommt, dessen Businessidee mit zugehörigem Plan sich nicht sinnvoll anhört?
Jochen Kalka: Das habe ich auch gedacht. Als ich im Silicon Valley mal einen Investor gesprochen habe, nach welchen Kriterien er seine Investments selektieren würde, sagte er ziemlich wörtlich: Mir ist die Geschäftsidee völlig schnuppe. Ich schaue den Gründern nur in die Augen. Wenn die strahlen, investiere ich. Ach ja, erwähnte ich schon, dass nur elf Prozent der Investoren weiblich sind?
Gegenfrage: Gibt’s den Investor noch? Leidenschaft und Begeisterung sind ja unentbehrlich für Gründer, aber leider kein Garant für Erfolg. Und kommst Du nicht ein bißchen früh mit der Gender-Keule? Woran machst Du denn fest, dass Frauen in Startups „noch mieser behandelt werden als in biederen alten Firmen“?
Jochen Kalka: Mit der Gender-Keule kann man nie zu früh kommen. Und, klar gibt es den Investor noch. So wie es auch tolle Startups und sensationell kreative Gründerinnen und Gründer gibt. Zurück zu den Frauen. Ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass es in Startups auch ein Gender Pay Gap gibt. Europaweit liegt es bei 16 Prozent, in Deutschland bei 22 und in Berlin gar bei 25 Prozent. Auch dass Alltagssexismus in Startups noch dramatischer ausgeprägt ist, als etwa bei der Bundeswehr. Jede dritte Frau erfährt in Startups unerwünschte Berührungen, um nur ein Beispiel zu nennen.
Liegt das an den langen Arbeitszeiten, den vielen Kickertischen oder an den etwa 85 Prozent Männern, die Startups gründen? Dann würde ich aber gerne wieder zu Deiner Kernthese zurückkommen 😉
Jochen Kalka: In Startups herrscht zuweilen eine Stimmung wie auf einem Abenteuerspielplatz. Das kann durchaus positiv sein, doch manche interpretieren das als grenzenlose Narrenfreiheit und verlieren dabei den Respekt eines Gegenüber. Ok, dann lass uns wieder zu den Lügen kommen, darin bin ich inzwischen Profi ;-).
Das hinterfrage ich an dieser Stelle mal lieber nicht. Aber ganz ernsthaft: Ist es nicht völlig normal, dass in der Gründungsphase von Unternehmen härter geklotzt werden muss als später? Oder meinst Du, dass Firmen ein Startup-Flair bewusst kultivieren, um die damit verbundene Mehrarbeit oder schlechtere Entlohnung ansprechender zu verpacken? Und weit über 90 Prozent der Startups scheitern. Man arbeitet doch nicht dort, weil man gerne scheitert?
Jochen Kalka: Dass härter geklotzt wird, ist völlig in Ordnung. Solange man nicht bewusst im großen Stil lügt, wie etwa das Startup Theranos, das mit einem Wunderstift Bluttests versprach und 9 Milliarden Dollar verbrannte. Andere Firmen kultivieren, wie du sagst, Startup-Flair bewusst, um mehr junge Menschen anlocken zu können. Zum einen ist das sicher keine dumme Employer-Branding-Maßnahme, zum anderen muss ein Siemens-Startup weniger Lohn zahlen, als es Siemens selbst täte. Kicker und Palettenmöbel sparen am Ende Knete. Und, ja, das Scheitern. Solange man mit einer Idee in einem Konzern scheitert, so what. Aber wenn man als Gründerin oder Gründer scheitert, eigenes Geld verliert, ausgebrannt ist, keine Kreditkarte und keinen Handyvertrag mehr bekommt, weil einen die Schufa nicht mehr mag, dann leidet die Psyche, die eigene Beziehung, dann ist das ein persönliches Drama. Ich habe solch ein Beispiel aus Berlin gefunden. Von wegen: Wir feiern das Scheitern in Fuckup-Nights.
Apropos Fuckup: Heißt das, Startups sind auch nur Unternehmen? Und was, wenn junge Menschen die „Lüge“ durchschauen und Startups nicht mehr cool finden? Rettest Du dann als Ü50er den Wirtschaftsstandort? Oder können wir uns darauf einigen, dass Pauschalurteile generell eher schwierig sind, aber Bücher mit provokantem Titel sich besser verkaufen?
Jochen Kalka: Startups sind definitiv auch nur Unternehmen. Im Prinzip gründete doch auch Werner Siemens ein Startup. Oder Carl Benz. Oder der Bäcker an der Ecke. Und jetzt merkst Du schon einen entscheidenden Unterschied der persönlich überzeugten Gründer im Gegensatz zu Startup-Pinocchios: Siemens, Benz und auch dein Bäcker stehen mit ihrem eigenen Namen hinter ihrer Geschäftsidee. Nenne mir ein Startup, wo das auch der Fall ist. Und so wird die Lüge auch von jungen Menschen mehr und mehr durchschaut. Dazu gibt es ein geniales Buch von der Französin Mathilde Ramadier, die von ihrer persönlichen Ausbeutungstour in diversen Berliner Startups berichtet.
Vielleicht tragen ja Startups dazu bei, dass auch in anderen Unternehmen moderner gedacht wird. Dass Frauen endlich gleichberechtigt sind, in jeder Hinsicht, dass Berufsanfänger nicht mehr ausgebeutet werden, dass Raum für neue Ideen entstehen darf, dass auch mal in schräge Innovationen investiert wird. Dann retten Startups jeden Wirtschaftsstandort. Aber leider gibt es in der Herde der Startups noch zu viele schwarze Schafe. Pauschal darf hier definitiv nicht verurteilt werden, da hast du recht. Am liebsten würde ich kein einziges Buch verkaufen, wenn es diesen Missbrauch von der Startup-Idee nicht geben würde.
Danke Dir, Jochen, für unser Mail-Ping-Pong. Jetzt bin ich allerdings ratlos, was ich Dir wünschen soll. Das Buch jedenfalls gibt es im Buchhandel (erschienen im Econ-Verlag) oder bei einem großen, in Seattle beheimateten Online-Kaufhaus. Für Leser dieses Beitrags, die einen Kommentar mit einer vernünftigen Mailadresse unter diesem Artikel hinterlassen, hat uns der Autor freundlicherweise drei Gratisexemplare spendiert. Wir verlosen sie unter allen Teilnehmenden.