Ich hasse Content

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Ich hasse Content

…aber ich liebe Geschichten! So auch die aktuelle Geschichte des Witwers, der mit seiner Botschaft auf einer Serviette an ein anonymes Pärchen gerade weltweit nicht nur das Netz bewegt. Diese Story (schön, wenn sie wirklich wahr ist) hat alles, was eine gute Geschichte braucht: Sie hat Herz, Emotion, Menschlichkeit und eine so große Strahlkraft, dass sie sich wie von selbst weiterverbreitet. Der moderne Content Marketer würde diagnostizieren: ein Viralhit!
Und damit ist sie Lichtjahre entfernt von einem Buzzword dieses Jahres: Content Marketing. Mir stellen sich dabei jedesmal die Nackenhaare auf. Content klingt so, als würde ich in eine Buchhandlung gehen und statt einer Romantikködie, einem Thriller und dem aktuellen Bestseller drei Bücher bestellen: ein rotes, ein gelbes und ein dickes. Oder zwei Kilo Text und fünf Minuten Video. Schlimmer wird die Gänsehaut nur, wenn ich omnipräsent schlaue Tipps für erfolgreiches Content Marketing lese – à la „Seien Sie relevant, interessant und unterhalten Sie!“ Ach ne, dann ist ja alles ganz einfach, oder? Das kommt mir ungefähr so hilflos vor wie 15 Tricks für Buchautoren, einen Bestseller zu schreiben.
Mein gefühlter Eindruck ist: Derzeit produzieren viele Firmen mehr oder weniger wertlose Inhalte (nämlich Content!) – für Google, den eigenen Vorstand oder weil es der Plan so vorgibt. Sich das einzugestehen ist natürlich ein weiter Weg, weil er häufig die eigene (berufliche) Existenzberechtigung in Frage stellt.
Unternehmen produzieren zu viel Content und zu wenig Geschichten
Liebe Unternehmen, liebe Netzgurus, macht einen Anfang, bitte streicht das Wort „Content“ aus dem Sprachschatz! Es wird dem nicht gerecht, was wir wirklich brauchen. Was wir in der Unternehmenskommunikation brauchen, sind spannende Text, bewegende Filme oder ein packendes Foto. Gerade eben hat Jochen Mai öffentlichkeitswirksam als ein Fazit seiner Studie zum Thema Corporate Blogs diagnostiziert, dass „Content Marketing tot ist“. Das mag für Content Marketing als Buzzword stimmen und als Bestandsaufnahme dafür, dass viele Unternehmens-Blogs Totgeburten für Marketingsprech sind. Es stimmt aber nicht als Zustandsbeschreibung dafür, dass Unternehmen künftig interessante Geschichten erzählen müssen, um noch ein Teil unserer Alltagskommunikation zu sein.
Beispiele gefällig? Gerne: Der Hornbach-Hammer war eine Hammergeschichte. Statt Schwerter zu Pflugscharen, Hämmer aus einem Panzer schmieden. Aus den „neuen“ Ländern kurz nach dem Mauerfall Care-Pakete mit Ostprodukten nach Westdeutschland zu schicken, das war eine witzige Geschichte. Fluggäste vor dem Start nach ihren Weihnachtswünschen zu fragen und Ihnen diese bei der Landung zu schenken, das war eine großzügige Geschichte von WestJet. „Auf eine Coke-Dose mit“ war eine persönliche Geschichte und der Sprung aus der Stratosphäre war wohl die unglaublichste Story der vergangenen Jahre.
In der PR, aber nicht nur dort, entwickelt sich gerade eine Diskussion, wer künftig dafür verantwortlich ist, Geschichten zu entwickeln und zu erzählen. Dabei geht es um Arbeitsplätze, Budgets und vor allem um Strukturen in der künftigen Unternehmenskommunikation. Denn im Kern gibt es kein Monopol für gute Geschichten: Weder für Journalisten, noch für PRler, Werber oder Marketingprofis. Jeder kann gute Geschichten erzählen. Aber auch solche, die niemanden interessieren.
Die spannende Frage für die Unternehmenskommunikation lautet deshalb für mich: Wer hat eine Idee mit crossmedialer Strahlkraft? Wer hat das Budget, aus dieser Idee eine Geschichte zu entwickeln? Und wer hat die Kompetenz, die Geschichte gut und professionell umzusetzen? Dann bringen Sie alle die Menschen, die sie dazu brauchen, an einen Tisch. Nennen Sie es Content Marketing, Storytelling, Buzz Creating oder wie auch immer, im Kern muss es einfach eine gute Geschichte werden. Aber bitte kein Content!

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